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Feature: Between Hope and Loss - Kyiv After Three Years of War

  • Autorenbild: Korbinian Leo Kramer
    Korbinian Leo Kramer
  • 10. Feb.
  • 17 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Mai

Personal stories of resistance, pain, and the longing for peace and freedom.


Zwischen Hoffnung und Verlust: Kiew nach 3 Jahren Krieg

Persönliche Erzählungen von Widerstand, Schmerz und der Sehnsucht nach Frieden und Freiheit.


Es ist ein sonniger Wintertag in Kiew. Der Himmel ist klar, und der Dnipro glitzert im Licht der Nachmittagssonne. Auf der Parkbrücke, die das Zentrum mit der Truchaniw-Insel am anderen Ufer verbindet, flanieren Paare und Familien, genießen die frische Luft und die Aussicht auf den Fluss. Der Stadtstrand auf der anderen Seite der Brücke lockt, und es scheint, als ob die Stadt in einer friedlichen Idylle versunken ist.


Mehr als 80.000 ukrainische Soldaten sind dem Krieg seit 2022 zum Opfer gefallen
Mehr als 80.000 ukrainische Soldaten sind dem Krieg seit 2022 zum Opfer gefallen

Doch bei näherem Hinsehen verändert sich der Eindruck. Die Stadt trägt sichtbare Spuren des nun bald drei Jahre währenden Krieges. Entlang der langen Mauer zum St. Michaelkloster, am Maidan und an vielen Ecken in der Stadt findet man unzählige Bilder von gefallenen und vermissten Soldaten. Es sind die ständigen Mahnmale des Krieges, die die Erinnerung an die Kämpfe wachhalten, die Kiew und seine Menschen auf so dramatische Weise verändert haben. Und obwohl die Atmosphäre an diesem Tag ruhig wirkt, bleibt der Schatten des Konflikts allgegenwärtig.


Severin’s Sorge vor der Rekrutierung


Nur wenige Minuten entfernt, nahe dem Goldenen Tor von Kiew, sitzt Severin Lebediev in einem hippen, alternativen Café. Leichte Lounge Musik erfüllt den warmen Raum. In einer ruhigen Ecke hat er Platz genommen, eine Mate vor sich. Ab und zu nimmt er einen Schluck, während sein Blick nachdenklich aus dem Fenster in die dunkle Straße fällt. Das Goldene Tor, einst das Haupttor der mittelalterlichen Stadtmauer, steht heute als Symbol für die Widerstandsfähigkeit Kiews. Severin arbeitet als Übersetzer für ein österreichisch-polnisches Möbelunternehmen. Der 25-Jährige hat sich an das Leben in dieser von Unsicherheit geprägten Stadt angepasst. Doch die ständige Bedrohung, dass der Krieg auch ihn eines Tages erreichen könnte, ist immer präsent.


Severin lebt mit einer schizoaffektiven Störung und ist auf Medikamente angewiesen, um einen einigermaßen normalen Alltag zu führen. Doch in der aktuellen Lage hat er eine noch größere Sorge: die Angst, selbst mobilisiert zu werden. „Ich bin mir nicht mehr sicher. Die Zeiten ändern sich, Dokumente hin oder her“, sagt Severin, der nachdenklich auf seine Mate blickt. „Viele werden von der Straße genommen. Teilweise wird unter Zwang rekrutiert. Mittlerweile nehmen sie auch Menschen mit verschiedensten Krankheiten.“


Befürchtet rekrutiert zu werden - Severin Lebediev
Befürchtet rekrutiert zu werden - Severin Lebediev

Er spricht ruhig, doch die Sorge in seiner Stimme ist deutlich. Er weiß, dass er jederzeit von der Polizei oder vom Militär angehalten werden kann. „Ich habe Angst, mich auf der Straße zu bewegen, die Metro zu benutzen. Es kann jederzeit passieren, dass ich in eine Kontrolle laufe und nach meinen Dokumenten gefragt werde“, so Severin.


Besonders am Hauptbahnhof Kiew Pass und an der angrenzenden U-Bahnstation Vucelna ist ein großes Aufgebot an Sicherheitskräften präsent. „Viele junge Menschen haben Angst, wenn sie öffentliche Verkehrsmittel nutzen, geprüft zu werden. Es fehlen Soldaten an der Front, was die Kontrollen im Alltag noch verstärkt haben“, erklärt Severin.


Severins Sorge ist nicht unbegründet. In den letzten Monaten wurde das Thema Rekrutierung immer drängender. Forderungen, das Wehrpflichtaltervon 25 auf 18 Jahre zu senken, verschärften die Situation. Doch Präsident Selenskyj hält bis heute an der bisherigen Altersgrenze fest. Die Menschen bleiben dennoch verunsichert. „Ich habe selbst schon das Militär an der Tür klingeln sehen“, fügt Severin hinzu. „Das kann passieren, auch wenn das noch nicht die Praxis ist. Neben einer möglichen Senkung des Rekrutierungsalters wird auch darüber nachgedacht, künftig Kranke, angeschlagene Menschen und Frauen – wie im israelischen Militär bereits üblich – an die Front zu ziehen. Diese Optionen stehen schon länger zur Debatte. Es ist eine 50/50-Chance, ob ich an diesem Punkt eingezogen werde.“


So lange der Krieg andauert, ist die Demokratie begrenzt


Doch Severins Alltag wird von mehr als nur dieser Angst bestimmt. Ein Freund, der zu Beginn der Invasion Kiew verlassen hatte, lebt mittlerweile im Oblast Kiew außerhalb der Stadt. „Viele sind aufs Land geflüchtet, haben ihre Arbeit, ihre Wohnungen aufgegeben. Sie warten ab. Sich zu besuchen wird schwierig. Freundschaften werden durch den Krieg enorm belastet.“

Severin selbst hat sich für das Bleiben entschieden. „Ich bin hier geblieben. Aber ich kann nicht rausfahren, weil kontrolliert wird. Mein Freund kann nicht reinfahren, weil kontrolliert wird. Wir haben beide das Gefühl, in einer Art isoliertem Raum zu leben. Wir sind immer noch in Kontakt, aber es ist anders geworden.“


In Severins Erzählungen wird die allgegenwärtige Bedrohung spürbar. Überleben ist das wichtigste Ziel geworden. Die Menschen in Kiew würden nur noch von Tag zu Tag planen und ihren Fokus auf die einfachen Dinge, auf das bloße Überleben richten. Gleichzeitig, so sagt er, wird die Demokratie immer weiter eingeschränkt. „Wenn der Krieg andauert, ist die Demokratie begrenzt. Es gibt keine Wahlen, keine Freiheit. Reisen sind nicht möglich. Niemand weiß, was nach dem Krieg passieren wird. Ich wünsche mir, als freier Mensch zu reisen. Als Tourist, nicht als Migrant. Das ist mein Traum.“


Die Suche nach einem politischen Kompromiss


Severin gibt zu, dass auch er über die politische Zukunft nachdenkt und hofft, dass ein Frieden erreicht wird, der für alle gerecht ist. „Wir brauchen einen direkten, aber fairen Frieden. Einen Kompromiss, der für alle passt. Geben wir unsere Regionen – Luhansk, Donezk, Krim, Cherson – auf? Vielleicht können wir sie irgendwann reintegrieren. Ich wünsche mir das, aber ich weiß nicht, ob das realistisch ist. Vielleicht können wir der NATO oder anderen westlichen Bündnissen beitreten. Aber ein Kompromiss muss möglich sein, mit der Option, diese Gebiete irgendwann wieder reintegrieren zu können.“


Severin glaubt an eine friedliche Lösung – oder zumindest an die Möglichkeit einer Annäherung. „Trump versucht es, ich hoffe auf Trump. Unsere Bevölkerung versucht daran zu glauben. Vielleicht ist es eine Chance. Aber derzeit ist weltpolitisch alles volatil. Ein neuer, unberechenbarer amerikanischer Präsident, bald ein neuer Kanzler. Realistisch ist es nicht, diese Gebiete gleich zurückzuholen.“ Tatsächlich zeigt eine Umfrage des IBIF-Projekts (Studying Identity & Political Behaviour in Ukraine) von Ende Januar, dass 54% der Ukrainerinnen und Ukrainer, unabhängig von Alter oder Hintergrund, die Hoffnung hegen, dass eine erneute Präsidentschaft von Donald Trump den Interessen des Landes zugutekommen könnte. Wie glaubhaft und repräsentativ diese Zahl nach den jüngsten Entwicklungen auf weltpolitischer Bühne noch ist, lässt sich aktuell nur schwer deuten. Für viele Ukrainer, auch in Severins Generation, erscheint die Aussicht auf eine pragmatische Lösung unter Trump’s Führung als realistische Möglichkeit, den Konflikt zu beenden, obwohl die Meinungen darüber, ob dieser Frieden gerecht für die Ukraine wäre, geteilt sind. Severin selbst sieht diese Möglichkeit als einen vielversprechenden, aber riskanten Ansatz.


Es ist fast Mitternacht, als Severin das Gespräch beendet. Die Uhr tickt und die bald eintretende Sperrstunde kündigt sich an. Von 24 bis 5 Uhr herrscht in der Hauptstadt Ausgangssperre – eine Erinnerung daran, dass der Krieg keine Pause macht, selbst wenn er in den Straßen Kiews weniger sichtbar wird. Am Maidan, dem einst lebendigsten und symbolträchtigsten Ort der Stadt, wirkt es jetzt wie ausgestorben. Eine surreal anmutende Stille hat sich über diesen Ort gelegt. Der Trubel, der hier früher den Tag bestimmte, ist verschwunden. Der Platz, die leeren Straßen scheinen auf etwas zu warten – doch worauf genau, weiß niemand. Es ist, als ob die Stadt innehalten würde, in Erwartung eines weiteren potenziellen Einschlags.


Die Dunkelheit zieht vorüber. Kiew hat eine weitere Nacht inmitten des Kriegs unbeschadet überstanden. Die Stadt erwacht, und die Menschen gehen so gut wie möglich ihren Verpflichtungen nach. Inmitten dieses geschäftigen Treibens wartet Daryna Bila, eine weitere junge Stimme der Ukraine, darauf, ihre Geschichte zu erzählen. Sie sitzt im hinteren Bereich eines gut besuchten Lokals in der Nähe der Universität. Der Duft von frisch zubereitetem italienischen Essen liegt in der Luft, während das Gemurmel der Gäste und das Klirren von Geschirr den Raum erfüllen - ein Moment der Ruhe, der für die 24-Jährige und die anderen Gäste als willkommene Auszeit vom kriegsgeprägten Alltag dient.


Daryna’s Heimat unter russischer Besatzung


Daryna lebt seit 2018 in Kiew, wo sie ihren Universitätsabschluss im Fach Journalismus gemacht hat. Sie stammt aus Enerhodar, jene Stadt, in der das Kernkraftwerk Saporischschja steht. Aufgrund der russischen Kontrolle über die Anlage stellt der Ort nach wie vor eine große Bedrohung für die gesamte Region dar. Am 4. März 2022 nahmen russische Truppen die Stadt ein. Nach fast sechs Monaten flohen ihre Eltern im August 2022. Dass sie es schließlich schafften, zu entkommen, war für Daryna ein wahres Wunder - heute leben sie in der Stadt Saporischschja. Sie beschreibt, wie ihr Vater, der Direktor einer Schule war, und ihre Mutter, die die ukrainische Sprache unterrichtete, aufgrund ihrer Verbundenheit mit der ukrainischen Kultur gezielt von den Russen verfolgt wurden. Ihre Großmutter, die aus der Donezk-Region stammt und deren Haus zerstört wurde, lebt nun ebenfalls mit ihnen in Saporischschja.


Während sich ihre Eltern kurz nach Beginn der groß angelegten Invasion den russischen Besatzern gegenüberstanden, erlebte Daryna in Kiew eine ebenso harte, aber doch andere Realität des Krieges. „Ich werde diesen schrecklichen Morgen nie vergessen. Ich kann mich an jede Minute dieses Tages erinnern“, erinnert sie sich. Die Explosionen, die von draußen zu hören waren, rissen sie aus dem Schlaf. Die Flughäfen rund um Kiew waren bombardiert worden, und der Schock war sofort spürbar. Obwohl Daryna über ein solches Szenario gewarnt worden war, wusste sie, dass man sich nicht wirklich auf einen Krieg vorbereiten konnte. „Das Erste, was ich tat, war, meine Verwandten anzurufen. Ich war sehr besorgt. Dann rappelte ich mich auf und ging zur Arbeit. Ich wusste, wie wichtig es war, die Nachrichten gerade jetzt zu decken.“


Im ukrainischen YouTube-Kanal von Wolodymyr Zolkin spricht Daryna Bila über Korruption und Repressionen in den von Russland besetzten Gebieten
Im ukrainischen YouTube-Kanal von Wolodymyr Zolkin spricht Daryna Bila über Korruption und Repressionen in den von Russland besetzten Gebieten

Daryna arbeitet für den YouTube-Kanal des bekannten Journalisten Wolodymyr Zolkin. Dabei richtet sich ihr Augenmerk auf die russische Propaganda und die Korruption in den besetzten Gebieten, insbesondere in ihrer Heimatregion Saporischschja und derzeit im Donbass. Sie beschreibt es als ihre Pflicht, über die Kriegsrealität zu berichten und den Missständen entgegenzuwirken. „Wir können keinen normalen Job machen. Wir müssen das tun“, sagt sie. „Es geht darum, Gerechtigkeit zu finden. Die Ukraine ist voll von Überläufern, die vom russischen Regime profitiert haben und jetzt schlecht über das Land reden.“ Zudem verbreite die russische Propaganda die Erzählung, dass Russland die Ukraine befreie, während diese angeblich ihre eigene Bevölkerung unterdrücken und quälen würde.


„Deshalb ist es so wichtig, dass wir gehört werden. Wir versuchen, den Menschen zu erklären, wie Propaganda ihre Meinungen und Überzeugungen verändern können“, erklärt Daryna weiter. „Es ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit, dass sie erkennen, wie wichtig es ist, sich gegen diese Narrative zu wehren. Das ist nicht nur ein Krieg auf dem Schlachtfeld, das ist auch ein Kampf um die Wahrheit“, schließt sie ihre Erzählung.


Obwohl ihre Arbeit und die ständige Auseinandersetzung mit dem Krieg und den Traumata erschöpfend sind, bleibt Daryna entschlossen. „Wir haben unseren eigenen Schmerz, unsere eigenen Wunden. Aber das bedeutet nicht, dass wir aufgeben können. Wir müssen weiterkämpfen, weiter berichten“, erklärt sie. „Es ist Teil unserer täglichen Routine geworden, dass der Alarm nicht mehr unseren Tag bestimmt. Wir leben mit dieser Angst, aber das Leben geht weiter.“


Daryna beschreibt die dramatische Situation in ihrer Heimatstadt Enerhodar inmitten der russischen Besatzung: Die Situation im Saporischschja-Kernkraftwerk ist nach wie vor äußerst bedrohlich. Sie erklärt: „Die Russen wissen nicht, wie man das Kraftwerk richtig betreibt. Es könnte ein zweites Tschernobyl werden, und wir wissen nicht, wie wir das verhindern können.“ Das gesamte Gebiet rund um das Kraftwerk ist mit Minen übersät, auch ein russisches Militärlager befindet sich dort. „Es ist eine ständige Bedrohung“, so die junge Journalistin. Besonders dramatisch ist die Lage der Arbeiter im Kraftwerk. „Sie sind wahre Geiseln“, beschreibt Daryna die Situation im größten Kernkraftwerk Europas. Vor allem jene Mitarbeiter, die für die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs notwendig sind, sind aufgrund ihrer Verantwortung für die Anlage geblieben. „Sie stehen unter extremen Druck stehen. Sie dürfen keine Telefone benutzen, haben keinen Zugang zur Außenwelt und leben praktisch rund um die Uhr dort. Der Terror, dem sie ausgesetzt sind, macht ihren Alltag unmenschlich.“


Das Elternhaus scheint verloren


Es gibt nach wie vor viele pro-ukrainische Menschen in Enerhodar, doch die Stadt ist durch die russische Besatzung tief gespalten, erzählt Daryna. „Die Stadt ist geteilt: Es gibt die, die noch an der ukrainischen Kultur festhalten, und dann gibt es die, die sich den Russen angeschlossen haben, weil sie keine andere Wahl haben“. Sie spricht von Repressionen seitens der russischen Besatzern: „Sie gehen an die Häuser, richten ihre Waffen auf die Leute und zwingen sie, die russische Nationalhymne zu singen, nur um sie zu bestrafen. Sie checken ihre Handys, lesen ihre Briefe. Es ist unglaublich, wie die Menschen gedemütigt werden. Es ist wie unter einem Terrorregime.“

Der nun fast drei Jahre andauernde Krieg hat sich mittlerweile in ihren Alltag gefressen. „Ich denke ständig an mein Zuhause. Manchmal merke ich, wie ich beginne, meine alte Schule und meinen Kindergarten zu vergessen. Das ist sehr bedrückend. Im Sommer des ersten Kriegsjahres habe ich jede Nacht geweint. Es ist sehr schwer, meine Eltern so leiden zu sehen. Aktuell leben sie nur 30 km von der Front entfernt“, sagt sie. Da die Raketen so schnell und überraschend einschlagen können, gibt es für sie praktisch keinen Bunker, in den sie sich retten könnten.

Daryna berichtet von den psychischen Belastungen, die der Krieg für sie und ihr Umfeld mit sich bringt. Sie erklärt, dass sie sich zwar an den ständigen Alarm gewöhnt haben, der Stress jedoch stets präsent ist. „Plötzlich auftretende Geräusche von Zügen, der Straße versetzen mich in Angst, weil sie mich unweigerlich an die Angriffe erinnern. Das ist mittlerweile tief in mir verankert.“ Es ist das schwere Gefühl, das Elternhaus verloren zu haben. „Ich habe Albträume von meinem Elternhaus, wir wissen nicht, was damit passiert ist. Wahrscheinlich leben jetzt Russen dort.“


Dieser Krieg war nie fair


Daryna äußert sich auch zu den politischen Entwicklungen in den USA und der Sorge, dass künftige internationale Entscheidungen möglicherweise nicht im besten Interesse ihres Landes getroffen werden. „Es geht nicht darum, dass wir der Welt sagen, dass wir Donezk, Luhansk, halb Saporischschja und die Krim aufgeben können. Es geht um den Preis, den wir zahlen müssen, während die ganze Welt so tut, als wäre dieser Konflikt weit entfernt. Als wären wir einfach mutig und kämpften für die Freiheit von uns allen, während sie sich in Paris oder anderswo in Europa entspannt zurücklehnen und ihre Croissants genießen. Es ist einfach nicht fair, was wir durchmachen, und wir haben das Gefühl, dass die Welt uns nicht versteht. Die Ukraine kann das alles nicht alleine regeln. Wir brauchen Hilfe.“, erklärt sie mit Nachdruck.


Der ständige Luftalarm gehört schon längst zu Darynas Alltag.
Der ständige Luftalarm gehört schon längst zu Darynas Alltag.

Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung erklärt Daryna: „Unser Präsident hat immer betont, dass es um einen gerechten Sieg geht, doch jetzt reden sie vermehrt von einem gerechten Frieden.“ Sie fragt sich, was an diesem Krieg überhaupt gerecht gewesen sei. „Dieser Krieg war seit den ersten Stunden der Invasion nicht fair, und das ist es, was wir alle spüren“, sagt sie. Der Gedanke, ihre Heimatstadt aufzugeben, nur weil jemand aus dem Westen das für die „beste Lösung“ hält, ist für sie unerträglich. Es gehe nicht nur um den Verlust von Land, sondern um viel mehr – um die Identität, Kultur und Geschichte ihres Landes. „Und das tut unfassbar weh“, fügt sie mit schmerzverzerrtem Gesicht hinzu.


„Die westliche Welt muss endlich begreifen, dass nur sie die russische Aggression stoppen kann“


„Und ich hoffe, dass auch Donald Trump irgendwann erkennt, wie gefährlich der russische Diktator wirklich ist. Putin redet nicht von Frieden. Er redet vom Krieg, weil der Krieg ihn an der Macht hält.“ Daryna betont, dass die internationale Gemeinschaft endlich begreifen müsse, dass der Frieden nicht eintreten wird, solange die russische Aggression weitergeht. „Wir können das nicht allein tun. Wir brauchen Unterstützung“, sagt sie abschließend.


Dann, fast wie eine Routine, ertönt der Luftalarm – ein schriller Ton, der sie aus ihren Gedanken reißt. Daryna sieht auf, doch niemand im voll besetzten Lokal reagiert. „Es ist verrückt, wie schnell man sich daran gewöhnt“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Eigentlich sollte man darauf reagieren, aber es fühlt sich an, als wäre der Krieg schon so lange Teil unseres Lebens, dass der Alarm selbst keine Bedeutung mehr hat.“

Daryna spricht mit einer gewissen Resignation, wenn sie über die Zukunft der Ukraine nachdenkt. „Die westliche Welt muss endlich begreifen, dass nur sie die russische Aggression stoppen kann. Wenn nicht, wird dieser Konflikt irgendwann auch andere Länder, wie Polen, erreichen“, warnt sie. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges ist in der Ukraine zwar tief verwurzelt, doch Daryna gibt zu, dass es zunehmend schwerer wird, daran zu glauben. Wir haben alles versucht, um den Krieg militärisch zu beenden, aber das hat nicht funktioniert. Vielleicht müssen wir es diplomatisch versuchen, aber es fällt schwer, an einen fairen Kompromiss zu glauben.“


Es geht um mehr als Militärhilfe


Sie beschreibt die Lage in den besetzten Gebieten als zunehmend hoffnungslos und macht deutlich, dass eine militärische Befreiung der Städte in absehbarer Zukunft unrealistisch erscheint. „Es gibt keinen Weg, diese Gebiete jetzt zu befreien. Für uns ist es offensichtlich, dass ein militärischer Erfolg in den nächsten Jahren wohl kaum möglich ist.“ Daryna ist sich unsicher, in welcher Welt sie und ihre Familie irgendwann erwachen werden. „Diese Ungewissheit ist eine der schlimmsten Qualen, die wir erleben.“ Während sie spricht, erklingt aus den Lautsprechern des Cafés das Lied "Everybody Hurts" von R.E.M. – eine melancholische Vorstellung davon, dass der Schmerz, den sie empfindet, auch von der ganzen Welt gehört wird.

„Ich weiß, dass es keine Lösung gibt, so wie wir es uns wünschen. Aber die Welt muss verstehen, dass es nicht nur um Militärhilfe geht“, fügt Daryna nachdenklich hinzu. „Es geht darum, zu begreifen, was wir verlieren – nicht nur das Land, sondern auch den Glauben an Gerechtigkeit.“


Daryna blickt auf die Uhr – es ist Zeit, zurück an die Arbeit zu gehen. Die Ungewissheit, die psychischen Belastungen und die Enttäuschung über die geopolitischen Umstände werden sie weiterhin beschäftigen. Ihr Alltag wird nach wie vor von den Sorgen um die Zukunft der Ukraine geprägt sein.


Zwei Tage später – Shevchenkivskyi District. Die Tür zu einer Privatwohnung öffnet sich. Eine Katze schlüpft neugierig durch den Türrahmen, während der Klang von Klaviermusik aus dem Raum dringt. Oleksii Zaslotsky sitzt im Wohnzimmer, vertieft in sein Spiel, als ob die Tasten des Pianos ihm einen Moment des Friedens inmitten des Chaos verschaffen. Der Raum ist schlicht, aber gemütlich.


Oleksii ist 37 Jahre alt. Als leidenschaftlicher Musiker spielte er bis zum Beginn der russischen Invasion in einer internationalen Big Band, die wie eine Familie für ihn war. „Es war mehr als ein berufliches Projekt.“ Doch mit dem Krieg verließen viele Bandmitglieder das Land und die Gemeinschaft zerbrach.


Die Notfalltasche steht immer bereit


Als die russischen Truppen Ende Februar 2022 nur noch rund 15 Kilometer vor den Toren von Kiew standen und der Lärm von Artilleriegeschossen allgegenwärtig war, floh Oleksii mit seiner hochschwangeren Frau und seinem Stiefsohn zu seinen Eltern nach Khmelnytskyi, etwa 300 Kilometer südwestlich von Kiew. Obwohl auch diese Region nicht ganz frei von Beschuss war, schien sie sicherer als die halb eingekesselte Hauptstadt. Als sich die Lage allmählich beruhigte, kehrten sie im Mai 2022 nach knapp 3 Monaten zurück nach Kiew. Um nicht zum Militärdienst eingezogen zu werden, schrieb sich Oleksii in der Folge an der Musikhochschule ein. Studenten sind bis heute von der Mobilisierung ausgenommen.


Aktuell lebt Oleksii mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nur einen Kilometer von Lukianivska - einem der am stärksten attackierten Stadtteile Kiews - entfernt. Die ständigen Luftangriffe und die unaufhörliche Gefahr von Raketenbeschüssen bestimmen auch ihren Alltag. „Wenn die Sirenen heulen, steigt mein Adrenalin sofort in die Höhe. Es ist die ständige Bedrohung, die das Leben hier bestimmt“, erklärt er. Im Falle eines Alarms ist alles vorbereitet: die Notfalltasche steht griffbereit an der Tür, in weniger als 15 Sekunden packt er seine Kinder und flieht mit ihnen in den Hausflur. Dort, hinter mindestens zwei Wänden, finden sie Schutz vor der Druckwelle der Explosionen, die Fenster zerbersten lassen und gefährliche Trümmer durch die Luft schleudern können. „Es ist eine normale Reaktion auf eine unnormale Situation. Du kannst nicht anders. Menschen mit schneller Reaktion überleben leichter“, so Oleksii. Die Gewissheit, in solchen Momenten rasch handeln zu müssen, ist für ihn zu einem instinktiven Teil des Überlebens geworden.


„Ich bin kein Held. Ich bin Vater“


Für Oleksii gibt es neben der persönlichen Bedrohung durch den Krieg auch die politische Dimension, die in den letzten Jahren immer stärker zutage tritt. „Ich sehe, wie die Gesellschaft sich spaltet“, erklärt er. „Es gibt die, die kämpfen, und die, die nicht kämpfen. Es gibt die, die gegangen sind, und die, die geblieben sind. Und es gibt auch die, die zurückkehren wollen, und diejenigen, die nie wieder zurückkommen werden. Die Gesellschaft ist gespalten, und das ist ein Problem, das nach dem Krieg noch schwieriger zu lösen sein wird.“ Die Meinungen innerhalb der Ukraine gehen immer weiter auseinander, und diese Trennung wird nicht nur durch den Krieg selbst verstärkt, sondern auch durch die politischen und gesellschaftlichen Unterschiede, die vorher schon vorhanden waren. „Es gibt auch Menschen, die das Land illegal verlassen haben, aber immer noch stolz auf die Ukraine sind. Und dann gibt es Menschen, die im Land geblieben sind, sich aber nicht sicher sind, was sie tun sollen“, sagt er.

Die Ungewissheit über den Ausgang des Krieges und die politische Situation belasten Oleksii. „Es ist eine riesige Tragödie“, sagt er. „Wir haben es nie gewollt. Aber was können wir tun? Ich bin kein Held. Ich bin Vater. Das ist alles, was ich bin.“ Er spricht auch über seine Haltung zur Mobilisierung und der Frage, ob er selbst jemals an die Front gehen würde. „Niemand mag Mobilisierung, niemand mag den Krieg. Aber der Krieg ist da, und wir müssen irgendwie überleben. Ich denke nicht, dass ich der richtige Mensch bin, um in den Krieg zu ziehen“, erklärt er. „Ich will nicht mein Leben riskieren. Ich habe Kinder und möchte für sie da sein.“


Kommen die Geflüchteten zurück?


Der Musiker Oleksii Zaslotsky hofft auf eine lebenswerte Ukraine
Der Musiker Oleksii Zaslotsky hofft auf eine lebenswerte Ukraine

Auch wenn er mit der politischen Lage in der Ukraine und der Welt unzufrieden ist, bleibt Oleksii realistisch und pragmatisch. Seiner Einschätzung nach wäre es eine gute Option, den Konflikt vorerst einzufrieren. „Wir haben keine motivierten Menschen mehr, keine Ressourcen. Alle sind erschöpft“, erklärt er. Der Versuch, von Russland besetztes Territorium zurückzuerobern, würde nur viele Opfer fordern, und die Motivation dafür fehle.“ Er sieht die Probleme, die die Ukraine hat – die Korruption, die politische Instabilität, die fehlende Einheit – doch er spricht auch darüber, was für ihn eine zukunftsfähige Ukraine ausmacht: „Es geht nicht darum, wie viel Land wir zurückgewinnen oder verlieren“, sagt er. Es geht darum, „dass die Menschen zurückkommen, die ins Ausland geflohen sind. Das ist für mich der wahre Sieg. Wenn sie nicht zurückkehren, dann ist das ein Zeichen, dass unser Land nicht lebensfähig, nicht lebenswert ist.“


In Bezug auf den Machtwechsel im Weißen Haus in Washington hat Oleksii eine gemischte Meinung. „Donald Trump mag verrückt sein, aber er könnte etwas verändern“, sagt er mit einem kleinen, unsicheren Lächeln. „Er ist ein Geschäftsmann, und das ist es, was die Welt manchmal braucht – Menschen, die bereit sind, Dinge zu verändern. Vielleicht nicht auf die Art, wie wir es uns vorstellen, aber er könnte etwas bewegen“, so Oleksii. Auf der anderen Seite sind seine Erwartungen in Trump jedoch begrenzt. „Niemand weiß, welche Deals die neue amerikanische Administration in den kommenden Wochen mit Putin schließen wird und inwieweit der Ukraine eine gleichberechtigte Rolle am Verhandlungstisch eingeräumt wird.“, fügt er hinzu.


Der Krieg wird die Gesellschaft für immer prägen


Angesichts der jahrzehntelangen Erfahrungen mit Russlands Wort- und Vertragsbrüchen hält Oleksii potenzielle Sicherheitsgarantien von Seiten Moskaus für völlig unglaubwürdig. „Die manische Vorstellung der Russen bedeutet, dass Russland niemals ein Imperium ohne die Ukraine sein kann“, erklärt er. „Denn die Ukraine ist ihre wohlig warme Hütte im großrussischen Dorf – der gemütlichste Teil Russlands.“ Für ihn endet die Hoffnung auf Trump und jegliche Garantien dort: „Ich kann mir keine Garantien vorstellen, die realistisch, logisch oder pragmatisch geschaffen werden können. Wie sollte das funktionieren?“ Oleksii bezweifelt, dass ein solcher Frieden langfristig möglich ist, vor allem, weil Russland eine Nuklearmacht ist. „Die ukrainische Bevölkerung fürchtet sie, weil sie kampferprobte, brutale Mörder sind, die selbst vor dem Angriff auf Friedensmissionen nicht zurückschrecken würden.“


Und doch bleiben für Oleksii folgende Überlegungen zentral: Wie wird die Zukunft aussehen? Wird es jemals dauerhaft Frieden geben? Wie wird sich das Land nach dem Krieg verändern? „Der Krieg wird weiter in unseren Köpfen und Herzen sein“, sagt er nachdenklich. „Ich habe Angst vor dem, was danach kommen könnte. Der Krieg wird die Gesellschaft für immer prägen.“


„Die Hoffnung lässt uns überleben“


Trotz der belastenden Situation gibt es für Oleksii keine andere Wahl, als weiter zu hoffen. „Gibt es eine andere Wahl, als hoffnungsvoll zu bleiben?“ Hoffnung, so erklärt er, ist etwas Wesentliches – ein lebensnotwendiges Gefühl. „Hoffnung ist nicht immer rational, sie ist ein Gefühl, das uns antreibt. Menschen brauchen Hoffnung, egal ob sie auf etwas Logischem basiert oder nicht. Sie brauchen irgendeine Form von Hoffnung, sei es die Hoffnung auf ein Wunder oder irgendeinen anderen Ausweg aus dem Dilemma. Und natürlich entfaltet Hoffnung auch eine Art zusätzliche Energie, die entsteht, wenn man auf etwas wartet – selbst wenn man nicht genau weiß, was es ist. Hoffnung ist unerlässlich, sie treibt uns an, sie lässt uns überleben.“


Mit diesen Worten erhebt sich Oleksii und geht zum Klavier. Mit den ersten Tönen von Dave Brubeck’s „Take Five“ beginnt er zu spielen, und für einen Moment sind der Krieg, die Politik und die Sorgen des Lebens weit entfernt. „Musik ermöglicht es dir, der Realität zu entfliehen oder, wenn nötig, zu ihr zurückzukehren. Sie bestimmt den Kurs, nicht ich“, so Oleksii. Es ist ein kurzer Moment des Friedens, ein Moment, in dem er für sich selbst existiert – unabhängig von allem, was um ihn herum passiert. Doch dieser Frieden wird nicht lange währen. Bald werden die Sirenen wieder heulen.


Ein gerechter Frieden


Die Ukraine und ihre Hauptstadt stehen an einem Wendepunkt. Der Krieg, der das Leben der Menschen hier auf so tiefgreifende Weise verändert hat, scheint weiterhin die Richtung der Zukunft zu bestimmen. Trotz der täglichen Herausforderungen und der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe, zeigt sich in den Geschichten der Menschen, wie stark der Überlebenswille und die Hoffnung auf eine friedliche Lösung in der ukrainischen Bevölkerung verwurzelt sind.


Wie lange der Krieg noch dauern wird und welche Form von Frieden letztlich erreichbar ist, bleibt jedoch weiterhin unklar. Die Aussagen des US-Präsidenten und seinem Team, allen voran Vizepräsident Vance, haben neue Unsicherheit in den Raum gestellt. Wird der Westen die Ukraine weiter unterstützen können? Und wird es einen gerechten Frieden geben, der nicht nur die territoriale Integrität schützt, sondern auch die Menschen hinter den politischen Entscheidungen beachtet? Die Worte der neuen amerikanischen Administration, die einen möglicherweise gefährlichen Pakt mit Russland skizzieren, werfen einen Schatten über jegliche Hoffnungen der ukrainischen Bevölkerung.


Am Ufer des Dnipro, auf der Parkbrücke, bleibt der Blick der Kiewer auf das fließende Wasser gerichtet. Doch es bleiben die Fragen, die der Krieg aufgeworfen hat. Kiew, die Stadt der Widerstandskraft, hat ihren Rhythmus verändert – von einem Ort des Lebens und der Freiheit zu einem Symbol des Überlebens und der Geduld. Kiew bleibt eine Stadt im Wandel, eine Stadt, die sich immer wieder neu erfinden muss – im Angesicht von Verlust und Hoffnung, im Angesicht von Frieden und Krieg. Und so wie der Dnipro stetig weiterfließt, so geht auch das Leben in Kiew weiter. Es bleibt zu hoffen, dass ein Leben in Frieden in nicht allzu ferner Zukunft für Kiew und die Ukraine wahr werden kann – ein Frieden, der nicht nur das Land, sondern auch die Seelen der Menschen heilt.

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© 2025 Korbinian Leo Kramer

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